Vor dem Wechsel aufs Gymnasium: Das Grundschulabitur

Acht Monate Angst, Druck und Konkurrenzdenken: Wie unsere Autorin die vierte Klasse ihres Sohnes an einer bayerischen Grundschule erlebt hat.

Ein Kind guck auf eine Tafel, darauf ist ein Pfeil zu sehen

Der Königsweg und ein paar Nebengipfel: Das wartet nach der vierten Klasse in Bayern (Zuschnitt) Illustration: Karoline Löffler

Ich weiß nicht, wie oft ich in den vergangenen Monaten zum Abitur angetreten bin. Zehn-, zwölfmal bestimmt. Nachts, wenn die Träume kamen. In ihnen wandele ich durch die Gänge meines Gymnasiums, finde den Prüfungsraum nicht – oder finde den Weg aus der Schule nicht mehr heraus. Um zu erfahren, warum ich mehr als 25 Jahre nach meinem Abitur solche Albträume habe, muss ich auf keine Psychiatercouch. Im vergangenen Schuljahr ist mein Sohn durch den Prüfungsmarathon des bayerischen Grundschulabiturs getrieben worden. Und wir als Eltern mit.

„Grundschulabitur“, so nennen viele Kritiker in Bayern den Übertritt nach der vierten Klasse in die weiterführenden Schulen. Dem bayerischen Bildungsministerium gilt es immer noch als unumstößliche Wahrheit, dass sich Kinder im Alter von 9 oder 10 Jahren am besten dafür eignen, ausgewählt und auf ihre zukünftige Schullaufbahn geschickt zu werden, sprich auf Hauptschule, Real­schule oder Gymnasium. Andere Bundesländer sind in den letzten Jahren zunehmend den Weg gegangen, nach der Grundschule nur Empfehlungen auszusprechen und die Eltern die Schulform für ihre Kinder selbst wählen zu ­lassen, in Bayern aber ist das Übertrittszeugnis bindend.

Im ersten Halbjahr der vierten Klasse werden 22 Pflichtproben in Deutsch, Mathe sowie Heimat- und Sachunterricht geschrieben. Hinzu kommen Leistungsnachweise in Englisch, Ethik, Religion, Musik oder Kunst. Die Leistungsnachweise erhöhen die Stoffmenge, die in kurzer Zeit in Kindergehirne gestopft werden muss, sie zählen aber nicht für die Entscheidung. Wer in den drei Hauptfächern einen Schnitt von 2,33 erzielt, darf auf das Gymnasium gehen.

Anfang Mai entscheidet das Übertrittszeugnis über die weitere Schulkarriere. Es geht also, abzüglich von sechs Wochen Schulferien, um acht Monate. Acht Monate Angst, Druck und Konkurrenzdenken. Acht Monate, in denen es immer wieder abends aus meinem Sohn herausbricht, als ich ihn zu Bett bringe: „Mama, was soll ich machen, wenn ich nicht aufs Gymnasium komme? Mama, alle aus meiner Klasse werden den Übertritt schaffen!“ Dieser drängende, gepresste Tonfall quält mich. Wie konnte es so weit kommen, dass mein neunjähriger Sohn bereits denkt: entweder Gymnasium oder Katastrophe?

Im Epizentrum der Leistungsgesellschaft

13. September 2016. Der erste Schultag der vierten Klasse. Mein Mann bringt unseren Sohn zur Schule. Es herrscht Wiedersehensfreunde unter den Schülern, sie erzählen sich Ferienerlebnisse. Von Übertritts­angespanntheit keine Spur. Doch dass die vierte Klasse nicht mehr die dritte ist, das sollten wir schnell merken.

Mein Mann, meine beiden Söhne und ich wohnen in Icking, im südlichen Speckgürtel von München. Im Isartal, das war schon immer eine gehobene Gegend. Als ich hier aufwuchs, in den Achtzigern, war es noch relativ gemischt: Handwerker, Landwirte und Akademiker lebten nebeneinander. Heute wohnt hier das Bürgertum: Patentanwälte, Inge­nieu­re, Ärzte, Berater. Man verdient hier überdurchschnittlich. Glück ist, wenn das Leben nach Erfolg aussieht, wenn das große Auto vor der Tür steht, die Reise nach Afrika klappt und sommers der Rasenroboter surrend seine Runden über das Grundstück zieht. Glück ist also, wenn es einem selbst gut geht.

In dieser Wohlstandswelt wollen Eltern, dass ihre Kinder aufs Gymnasium kommen. Und sie sind bereit, dafür fast alles zu tun: Sie bringen ihre Kinder zur Lerntherapie, sie besorgen Proben aus dem Vorjahr, manche geben ihren Kindern Ritalin. Die Eltern kämpfen für den Übertritt. Welchen Unfrieden der Übertritt in die Familien bringt, konnte ich sehen, wenn ich mit den Eltern anderer Wackelkandidaten sprach. Ich sah Tränen in den Augen der Mütter glitzern, hörte die Wut in den Stimmen der Väter. Nur wenige wehrten sich grundsätzlich gegen dieses System, und wer es tat, eckte an.

In Icking gehen nach der vierten Klasse um die 80 Prozent der Kinder aufs Gymnasium, nach Aussagen des Schulamts. Der Schnitt in Bayern liegt bei ungefähr 40 Prozent. In Deutschland gingen 2014 laut dem Statistischen Bundesamt 45 Prozent aller Schüler einer weiterführenden Schule aufs Gymnasium. Icking liegt also im Epizentrum der Grundschulleistungsgesellschaft.

„Bitte reden Sie mit Ihrem Kind nicht über das Thema Gymnasium“, sagte die Lehrerin

Eigentlich begann der Weg meines Sohns in der Grundschule gut. Was ich oft über ihn gehört habe: intelligent, wach, begeisterungsfähig, schnell im Verknüpfen von Gedanken. Er ist zweisprachig aufgewachsen, mit Deutsch und Französisch, mein Mann ist Belgier. In der zweiten Klasse sagte eine Lehrerin über meinen Sohn: „Er reißt oft ethische Fragen an, die die ganze Klasse nach vorne bringen.“ Ich freute mich damals. Fragen und Hinterfragen ist ein Wert, der in unserer Familie zählt. Mein Sohn ging drei Jahre lang in einen Waldorf-Kindergarten. Er bastelt gern, berührt, experimentiert. Von einem seiner Experimente machte er ein Video: Er legte Silvesterknaller auf einen Haufen, daneben eine Wasserbombe. Die Böller explodieren, das Feuer erreicht die Wasserbombe, sie platzt, das Wasser löscht den kleinen Brand.

In den ersten Jahren der Grundschule brachte mein Sohn gute Noten nach Hause, Zweier, Dreier. Und in jedem Referat eine Eins.

Doch dann gab es da dieses Wort: Übertritt. Ich erinnere mich an einen Elternabend zu Beginn der zweiten Klasse. Die Lehrerin sagte: „Bitte reden Sie mit Ihrem Kind nicht über das Thema Gymnasium.“ Das klang für mich wie: „Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten.“ Die Lehrerin weiter: „Wichtig ist, dass das Kind sich geliebt fühlt und sich nicht über Leistung definiert.“ Ich fragte sie, warum dann im Klassenzimmer auf einem Plakat für alle Kinder lesbar aufgelistet wurde, welche Schüler zu Hause – neben den Hausaufgaben – Fleißaufgaben erledigt hatten. Stille. Die Lehrerin wand sich. Die Antwort kam dann von den anderen Eltern: „Na ja, wir sind nun mal eine Leistungsgesellschaft. Wir müssen unsere Kinder schon darauf vorbereiten.“ Eine Mutter verplapperte sich und gab zu, dass sie ihr Kind immer danach fragt, welche Noten die anderen denn so hätten.

Die Hegemonie einer Leistungsgesellschaft – das wurde mir an diesem Abend klar – wird einfach hingenommen. Die Eltern spielen mit, halten sich an die Regeln und rechtfertigen sie sogar. Seit diesem Elternabend bin ich wütend.

Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Eltern müssen assistieren

In der dritten Klasse begann die neue Klassenlehrerin damit, uns Eltern regelmäßig Mails zu schrei­ben, in denen sie angab, was in der nächsten Schulaufgabe abgefragt würde. Teils schrieb sie uns genaue Seitenangaben der Lehrbücher oder schickte Hinweise auf einen bestimmten Rechenweg. Ich bin mir sicher, das hatten sich einige Eltern so gewünscht. Jedenfalls war klar: Der ganze Stoff konnte nicht ­allein im Unterricht vermittelt werden. Eltern müssen assistieren, wenn sie wollen, dass aus ihren Kindern mal etwas wird.

Auf diesen Deal wollte ich mich nicht einlassen. Ich hatte mich innerlich immer dagegen gewehrt, mit meinen Kindern Nachmittage zu verhocken, um zu pauken. Natürlich half ich hier und da, kontrollierte die Hausaufgaben. In der Stoffvermittlung aber vertraute ich darauf, dass die Schule ihren Job macht. Ich dachte: „Ich gehe ja nicht mehr zur Schule!“

Auch für den Übertritt wollte ich daran nichts ändern. Im vergangenen Herbst, zu Beginn der vierten Klasse meines Sohns, arbeitete ich viel und fuhr auf eine längere Pressereise.

Auf dem Pausenhof, erzählt mein Sohn eines Tages, vergleichen die Kinder Noten. Die mit den Einsern und Zweiern ballen nach den Schulaufgaben siegreich die Faust. Tschaka! Alle haben verstanden: Ich muss jetzt über eine Hürde springen, und wenn ich das nicht tue, dann bin ich weg.

Wir verschmelzen zu einem Team

Im Oktober bringt mein Sohn eine Vier in einem Deutschdiktat nach Hause. Das ist neu. Er hatte während der Probe Bauchweh und wurde nicht fertig. „Ich dachte, ich muss durchhalten und darf erst danach zum Arzt“, erzählt er mir. Mein Mann und ich gehen zur Lehrerin, um zu fragen, ob er die Probe nachholen darf, weil klar war, dass er unter Schmerzen nicht die volle Leistung erbringen konnte. Die Schule lehnt das ab. Ich signalisiere ihm, dass „wir“ uns von dieser Vier wegarbeiten müssen. Wir verschmelzen zu einem Team.

Als Schülerin war ich ehrgeizig, an meinen eigenen Übertritt kann ich mich nicht erinnern, die Grundschule fiel mir sehr leicht. Auf dem Gymnasium kamen dann auch mal schlechtere Noten, ich hatte aber immer das Gefühl: Die Eins oder Zwei, das bin ich. 1,8 im Abitur, 1,3 im Diplom. Als mein Sohn die erste Vier nach Hause bringt, merke ich: Das weckt alte Erinnerungen bei mir.

Ich kenne das Gefühl, den eigenen Wert von außen bestimmen zu lassen. Als ich noch zur Schule ging, geriet ich in der achten Klasse auf dem Gymnasium ins Schlingern, kassierte Vierer und Fünfer ein. Ich fühlte die Abwertung durch die Lehrer, spürte ihre Interesselosigkeit mir gegenüber, der scheinbar begriffsstutzigen, wenig vielversprechenden Schülerin. Ich wechselte auf ein Ganztagsgymnasium mit Hausaufgabenbetreuung und gab Gas, stieg notenmäßig steil nach oben. Ich funktionierte aber weiter voll in dem System, begann meinen persönlichen Wert anhand der Notenskala abzulesen. Jahrelang habe ich daran gearbeitet, dieses Gefühl abzuschütteln. Ich hatte mich davon befreit. Aber jetzt kommt es wieder. Die Schule streckt ihre Finger nach mir aus.

Die Depressionsrate unter Schülern steigt

Das enttäuschte Gesicht meines Sohns tut mir weh, eine schlechte Note kränkt ihn. Ich will unbedingt, dass ihm alle Türen offen stehen. Aber ich muss auch aufpassen, was die Noten mit unserer Beziehung anstellen. Auf keinen Fall will ich ihn durch die gleiche Brille sehen, durch die die Lehrer ihn sahen. Vor der Schule war ich immer begeistert von meinem Kind, sah in ihm vor allem Potenzial. Spätestens seit der vierten Klasse wurde es mir in regelmäßigen Abständen als Mängelwesen präsentiert, als Sorgenkind. Der Kampf gegen diese Perspektive kostet Kraft, und er macht wahnsinnig wütend.

Die nächste Note ist eine Fünf, wieder in Deutsch. Ein No-go im Übertrittsjahr. Ich spüre einen Angsthauch.

Kurz nach Weihnachten machen wir einen Termin beim Psychologen aus. Die Klassenlehrerin hatte in einer Sprechstunde in einem leicht vorwurfsvollen Ton angedeutet, mein Sohn habe vielleicht ADHS. Er könne sich schlecht konzentrieren. Ich werde unruhig. Es stimmt ja: Er hat seine Antennen immer in alle Richtungen offen, ist leicht zu begeistern, aber auch leicht abzulenken. Kann das die Antwort sein?

Der Psychologe spricht eine Viertelstunde lang mit meinem Sohn. Danach weigert er sich, eine Diagnose zu geben. „Warum soll ich ihn pathologisieren?“, fragt er und wirft uns fast aus der Praxis. „Ihr Kind ist komplett gesund. Worunter es leidet, ist der Druck.“

Allenfalls könne er sich ein Konzentrationstraining vorstellen. Also lassen wir ihn ein Neuro-Feedback am PC machen, ungefähr zehnmal geht er zu einem Konzentrationstraining, bei dem Elektroden auf seinem Kopf platziert werden. So kann er mit seiner Gedankenkraft Flugzeuge und Skateboards auf dem Bildschirm lenken.

Im Winter beginnen die Stressymptome

Heute frage ich mich, warum wir das gemacht haben. Ich glaube, wir wollten ihn wappnen.

Im Laufe des Winterhalbjahrs beginnt mein Sohn Stresssymptome zu zeigen: Er vergisst ständig Dinge, verwechselt plötzlich wieder v und f, kann nicht einschlafen. Einmal fällt ihm morgens auf, dass er seine Hausaufgaben vergessen hat. Panisch steht er in der Küche, weint, zittert, schreit.

Dann habe ich einen Traum. Ich bin als Erwachsene in der Grundschule, muss eine Probe schreiben, noch drei Minuten, ich greife nach dem Killer und lösche alles weg.

Im Februar findet der Elterninformationsabend vor dem Übertrittszeugnis statt. Vertreter von Gymnasium, Realschule und Hauptschule stellen ihre Schulformen vor.

Eine Lehrerin des Gymnasiums ergreift dass Wort. Sie listet auf, was ein zukünftiger Fünftklässler mitzubringen habe: logisches Denken, hohe Gedächtnisleistung, selbstständiges, zügiges, ausdauerndes, ordentliches und genaues Arbeiten, dazu emotionale Belastbarkeit und hohe Frustrationstoleranz, gepaart mit einer hohen intrinsischen Motivation, mit Ehrgeiz und Fleiß, zudem sprachliche und mathematische Kompetenz in allen Bereichen. Es hört sich wie eine Stellenanzeige für oberes Management an. Ja, am Anfang der fünften Klasse käme es öfters vor, dass Kinder, die vorher notenmäßig sehr gut waren, weinten, weil sie nicht an Dreier oder Vierer gewöhnt seien, erzählt die Lehrerin kalt. Aber so sei das, da müssten sie durch.

Der Elternverschreckungsabend

Dann zeigt sie ein Foto von einer Bergkette: Der höchste Gipfel, platziert in der Mitte des Bildes, steht für das Abitur. In Rot eingezeichnet ist der steilste Weg, der „schönste“, laut der Lehrerin, das ist die Direttissima zum Ziel, sprich: der Weg durchs Gymnasium. Sie nennt das den „Königsweg“.

Auf dem Bild gibt es niedere Nebengipfel, die „alternative Ziele“ genannt werden, zum Beispiel eine Ausbildung. Einerseits wird so getan, als sei jeder Weg gleichwertig. Als gehe der Druck auf die Kinder, unbedingt aufs Gymnasium zu gehen, nur von den Eltern aus, nicht von dem Schulsystem. Sie sagt: „Die Aggressivität von den Eltern gegenüber den Lehrern nimmt zu.“ Ich kann es verstehen. Mir juckt es an diesem Abend in den Fingern. Ich würde dieser Frau mit ihrer verlogenen Semantik am liebsten an die Gurgel gehen. Ein Vater neben mir sagt: „Ich würde ihr so gern mal meine Meinung geigen!“ Er traut sich nicht. Das ist eine Erfahrung, die ich immer wieder mache: Wer Grundsätzliches kritisiert, wie zum Beispiel einen von der örtlichen Bank gesponserten Malwettbewerb in der Grundschule, wird abgewatscht.

An dem Abend erzählt die Lehrerin auch, dass sich fast die Hälfte aller bayerischer Grundschüler gestresst fühle und dass die Depressionsrate unter den Gymnasiasten steige. Ich erinnere mich auch an einen Beitrag des Bayerischen Rundfunks, der über eine psychosomatische Klinik berichtete, die mit depressiven Abiturienten gefüllt ist.

Draußen vor der Tür stehen nach dem Abend die Eltern zusammen, viele mit fassungslosen Gesichtern. Ich spreche seitdem von diesem Ereignis nur noch als „Elternverschreckungsabend“.

Dekonstruktion in der vierten Klasse

Einige Tage danach treffe ich eine Schulberaterin in München, der ich von meinen Sorgen erzähle. Sie sagt: „Hier in München werden auch Kinder aufs Gymnasium gepusht, die da gar nichts verloren haben. Sie purzeln in der Mittelstufe wieder runter.“ Ab der achten Klasse steige die Zahl der Schüler in den Realschulen stark an, manche hätten dann plötzlich doppelt so viele Schüler. Die Beraterin erzählt mir auch, dass 40 Prozent der bayerischen Abi­turienten ihre Hochschulreife nicht an einem Gymnasium erwerben, sie gehen an Fachoberschulen oder holen das Abitur anders nach. Und dass ich davon ausgehen könnte, dass bei uns in Icking ein höheres Niveau an den Grundschulen herrsche als in der Innenstadt. „Die Proben sind härter oder werden härter bewertet.“ Nach dem Gespräch fühle ich mich getröstet.

Im April kommt mein Sohn mit Unterlagen nach Hause, auf denen steht: „Landesbildungsanstalt Baden-Württemberg“. Arbeitsblätter, die dort Fünftklässler lösen auf dem Gymnasium. Es geht um Märchen. Die Kinder müssen ein Märchen ­schreiben, in denen fünf Elemente vorkommen, die aus der Erzähltheorie stammen: ein Held, das Böse, ein Helfer, ein magischer Gegenstand und eine Zauberformel. Sie sollen ihr eigenes Märchen bauen. Das ist Dekonstruktion in der vierten Klasse: Wie entzaubere ich die Welt?

Im Mai kriegen wir es dann endlich, das Übertrittszeugnis. Mein kluger Junge, der mit neun Monaten zu sprechen begann, der sich das Französisch seines Vaters spielend angeeignet hat, gehört jetzt zu den drei Kindern seiner Klasse, die als ungeeignet fürs Gymnasium gelten, weil er eine 2,66 im Durchschnitt hat und keine 2,33.

„Mama, weißt du, der Stress tut mir nicht gut“

Es ist eigentlich ein Witz. Wenn ich es nicht im Innersten als Beleidigung empfinden würde. Ich weiß: Da gehen Kinder aufs Gymnasium, die weniger begabt sind als er, die aber besser auswendig lernen können. Aber ich möchte auch nicht wie der gekränkte Fuchs in der Fabel von Fontane sein, der sich ärgert, dass er die Trauben nicht erhaschen kann, und dann sagt, sie sind zu sauer. Wir gehen trotzdem abends essen und feiern unseren Sohn dafür, dass er sich so angestrengt hat.

Im zweiten Halbjahr der vierten Klasse schreibt er bessere Noten. Am Schuljahresende hat er den Schnitt, den er fürs Gymnasium gebraucht hätte. Vielleicht, weil er im Konzentrationstraining Erfolgserlebnisse hatte und sich dann auch in der Schule mehr zutraute. Vor allem aber ist der Druck plötzlich weg. „Mama, weißt du, der Stress tut mir einfach nicht gut“, sagt mein Sohn einmal vor dem Schlafengehen. Und es versetzt mir einen Stich, dass er dabei aussieht wie ein Erwachsener. Als ich zehn war, kannte ich das Wort „Stress“ noch gar nicht.

Kurz bevor das Schuljahr endet, spreche ich mit dem Schuldirektor. Als Leiter der Schülerzeitung, in der sich mein Sohn jede Woche engagiert hatte, kennt er unser Kind gut. Er ist ehrlich betroffen, sagt: „Ihr Sohn ist wesentlich begabter, als er es hier an der Schule hat zeigen können.“ Ich würde es drastisch umformulieren: als es die Schule an ihm zeigen konnte.

Streng: In Sachsen, Bayern und Thüringen geben die Grundschulen verbindliche Empfehlungen für das Gymnasium ab. Am strengsten ist Sachsen: Dort braucht man einen Schnitt von 2,0 in den Hauptfächern.

Moderat: In Brandenburg können Schüler, die keine Empfehlung für das Gymna­sium bekommen haben, eine Eignungsprüfung absolvieren. In Mecklenburg-Vorpommern können sie ein Probehalbjahr am Gymnasium absolvieren. In Schleswig-Holstein schließt die Empfehlung für die Hauptschule nur den Zugang zum Gymnasium aus.

Liberal: In Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sprechen die Grundschulen unverbindliche Empfehlungen aus. In Berlin, Bremen, Hamburg und im Saarland können die Eltern frei entscheiden.

Der Entschluss, wie es weitergehen soll, fällt Wochen vor dem Zeugnistag, am „Elternverschreckungsabend“. Mein Sohn geht auf eine Waldorfschule. Wir schicken ihn zu Probetagen, er kommt mit leuchtenden Augen zurück. „Da will ich hin“, sagt er.

Dieses Jahr hat uns näher gebracht

Ich freue mich auf die Waldorfschule. Und hoffe, dass mein Sohn dort mehr lernt, als nur Leistung zu bringen, dass verknüpfendes Denken gefördert wird: Er wird im landwirtschaftlichen Praktikum auf dem Bauernhof arbeiten. Beim Bruchrechnen wird er einen Apfel zerteilen und sehen, wieso drei Viertel weniger ist als ein Ganzes. Ich wünsche mir für meinen Sohn, dass er einfach er werden darf und eines Tages in sich spürt, wie und als was er arbeiten möchte. Wir haben uns auch Realschulen angesehen, es ist dasselbe System, das bedient wird, nur wird man Verkäufer anstatt Manager. Excel lernen die Kinder in der sechsten Klasse. Das passt nicht zu ihm.

Ich bin meinem Sohn dankbar. Dieses Jahr hat uns einander nähergebracht. Für ihn musste ich noch einmal in meine inneren Bergwerke steigen und zutage fördern, wie sehr ich trotz allem ein ehrgeiziger Mensch bin, ein Produkt der Leistungsgesellschaft, die aus Menschen besteht, die die Leistungen ihrer Kinder für die eigenen halten. In der Grundschule meines Sohns wird erwartet, dass die Eltern mitarbeiten. Und hier in Icking wird auch erwartet, dass die Mutter nachmittags zu Hause bei den Kindern ist. Mein Sohn hat mir gezeigt, dass ich als Erwachsene genug Kraft und Mut habe, mich noch einmal von dem vorgegebenen Bewertungssystem zu lösen.

Am letzten Schultag geht die Klasse mitsamt Eltern mittags Pizza essen. Mein Sohn will unbedingt hin, seine Freunde sehen, bevor sie auf eine andere Schule gehen. Eine Handvoll Mütter fallen der Lehrerin um den Hals. Mir kann die Lehrerin, sie sitzt schräg gegenüber, eineinhalb Stunden lang nicht in die Augen sehen. Und obwohl ihr im Namen der ganzen Klasse ein nicht gerade billiges Abschlussgeschenk überreicht wurde, übergeben einige Eltern der Lehrerin noch Extrageschenke. Im Nachhinein erfahre ich, eines davon war so teuer, dass sie es ablehnen musste.

Wir fahren in den Urlaub. Das Wort „Gymnasium“ fällt nicht ein einziges Mal. Wir brauchen es nicht. Wir fahren mit unseren Mountainbikes die „Parenzana“, eine einstige Eisenbahntrasse, von Slowenien nach Kroatien, auf holperigen Schotterpisten. Wir fahren durch Tunnel und über Viadukte, bei Sonne und Regen, ungefähr 30 Kilometer am Tag. Von Etappe zu Etappe.

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