Religionsphilosoph Klaus Heinrich: Gelehrsam und so freundlich

Er lehrt ein aufregend gegenwärtiges Denken, das befreit und glücklich macht. Zum 90. Geburtstag des Religionsphilosophen Klaus Heinrich.

Nahaufnahme von Klaus Heinrich

Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich im Jahr 2008 Foto: Imago / Christian Thiel

Klaus Heinrich ist geborener Berliner. Er war in seiner Jugend Flakhelfer, zugleich Saboteur. Die Nazis ekelten ihn, darum warf er die Waffe fort. Heinrich lehrte zeitlebens an der Freien Universität, die er 1948 als Student gegen die „unfreie unter den Linden“ mitbegründete, an der er Verfolgung durch die Ostberliner Stalinisten erfahren hatte.

Heinrichs Denken ist alles andere als provinziell, vielmehr eröffnend und von einem Punkt her gezirkelt: dem der Dialektik der Aufklärung, dort, wo diese in Mythologie umschlägt, so wie umgekehrt Religion, die Angst bereitet, auch immer an ihrer Abschaffung oder Aufhebung arbeitet. Ist Gott also ein Tyrann? Oder nicht eher der Erste unter den Brüdern?

Für Klaus Heinrich ist Religion da, wo sie zählt, nicht nur reflektiert, sondern antiautoritär und auf Seiten der Befreiung – dies wohl ein Grund, warum auch in seinen Vorlesungen ein ungewohnt freier Geist wehte, so als wären im wohl behüteten Haus der deutschen Universität Fenster geöffnet worden. „Der Geist treibt“, das wusste schon Ovid, und der Geist treibt hin und her, ungeordnet und frei, weil er Befriedigung für den Menschen als begehrend begehrtes Wesen sucht, wie eine Lieblingsformel Heinrichs lautet, gestützt auf Freud.

Die „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“, die Jüngere wie Friedrich Kittler später und mit Recht propagierten, erwies sich aber doch als ohnmächtig, weil die rechte Avantgarde den Geist bereits erfolgreich vertrieben hatte. Daran konnten die Universitätsreformen der letzten Jahrzehnte nahtlos anschließen. Doch der alte Traum der Geistesgegenwart zielt seit der Bibel auf Versöhnung, nicht auf Austreibung oder Unterwerfung.

Aufregend gegenwärtig

Heinrichs Dahlemer Vorlesungen sind legendär. In ihnen wurde öffentlich, vor aller Ohren und Augen – denn es wurden immer auch Bilder gezeigt – ein Schatz an Wissen gehoben, der bei seiner Bergung aber nicht zerfiel oder sich als verstaubt, sondern im Gegenteil als mit größter Aktualität aufgeladen erwies.

Dann waren wir alle wie elektrisiert, wie vom Donner gerührt – ein Effekt, als hätte ein Zen-Meister die meditierenden Schülerinnen und Schüler nach langer, eifriger Übung mit einem Schlag an die überwunden geglaubten, aber eben doch anhaltenden Zustände von Dämmer oder Überheblichkeit (beides sind Formen der Illusion) erinnert. Freilich geschah dies bei Heinrich nicht direkt, sondern stets vermittelt durchs Medium von Dichtung, Kunst, Philosophie, in Überlegungen zu Lukrez und Sartre, zu Tizian und Beckmann, zu Platon und Ador­no. Und immer zu Freud als Begründer einer Methode.

Im Hörsaal trug Heinrich seine ­Gedanken frei vor, in melodischen, wohl gebauten Sätzen

Heinrichs ungeheure Gelehrsamkeit war nie beängstigend, weil sie sich stets als aufregend gegenwärtig erwies, der Vortrag ging eine und einen selbst sofort an. Auch wurden diese Gedanken in einem ganz freundlichen Ton erhoben. Wie konnte ein solcher Mann sich nur so verhalten? Für uns, die wir andere Ordinarien kannten, blieb es rätselhaft. Die das Auditorium derart faszinierenden Vorlesungen waren auf ihre Weise ganz unspektakulär, keinerlei Effekthascherei, keine Show gab es, aber auch keine Belehrung oder Schulmeisterei.

Einer Sirene gleich

Cum tempore (also Viertel nach vier nachmittags) trat ein Herr im bürgerlichen, graublauen Anzug in den Hörsaal und sprach mit heller, ruhiger Stimme, dabei bewegte er sich vor dem Katheder, den er niemals betrat, im theatrum philosophicum an der Rampe von einer Seite zur anderen, insgesamt an die zehn, fünfzehn Meter, um sich nur dann frontal zum Auditorium zu wenden, wenn er Passagen aus mitgebrachten Büchern (Homer und die Bibel, Heidegger und Adorno) las.

Sonst trug er seine Gedanken frei vor, ohne Notizen oder Unterlagen, in langen, melodischen, wohl gebauten Sätzen. Heinrich war einer Sirene gleich, aber wir konnten doch weitersegeln, genießen und mussten uns nicht wie des Odysseus’ Gefährten die Ohren verstopfen lassen. Das war Freiheit, denn so lernten wir die Sache des Denkens, die befreit und glücklich macht.

Nicht nur Studierende der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer fanden sich im Hörsaal C des Henry-Ford-Baus jeweils am Montag und Donnerstag von 16 bis 18 Uhr ein, sondern auch Intellektuelle, Psychoanalytiker, Architektinnen, Maler, Theaterleute, tout Berlin, soweit es einen Anspruch darauf erhob, zu wissen, was es heißt, „der Gesellschaft ein Bewusstsein ihrer selbst zu geben“. Denn das war es, was wir von Heinrich lernten: weder Befreiung aller ohne uns noch unserer ohne diese.

Dieses Projekt gilt es, weiter zu betreiben, es neu zu denken, um mit ihm ins Freie zu kommen, und das ist das Erbe von Klaus Heinrichs Denken, der am 23. September biblische neunzig Jahre alt wird. „Auf hundertzwanzig!“, wie fromme Juden wünschen.

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