„Räuberinnen“ im Gorki Theater in Berlin: Eine kurz gelebte Utopie

Es steckt noch immer etwas Schiller in den „Räuberinnen“, die mit der Regisseurin Leonie Böhm ans Gorki-Theater Berlin kamen.

Drei Schauspielerinnen sitzen hinter einem Keyboard und Mikrofonen

Das Keyboard wird zum Temperaturmesser für den Gefühlshaushalt in den „Räuberinnen“ Foto: Judith Buss

„Du kennst mich gar nicht, Amalia“, sagt die Schauspielerin Eva Löbau zu Leonie Böhm. Und überlegt laut: „Auch im elendsten Äsopschen Krüppel kann eine große, liebenswürdige Seele, wie ein Rubin aus dem Schlamm, glänzen.“ Es sind hundert Prozent Friedrich Schillers Worte, mit denen sich Eva Löbau alias Franz Moor nach gut einer halben Stunde „Räuberinnen“ erklärt. Dieses Bekenntnis lässt einen nicht kalt, denn Regisseurin Leonie Böhm extrahiert aus Schillers „Räuber“ bewusst den Text, der sich mit der Gemütsverfassung des Franz Moor beschäftigt. Es gelingt ihr so, die tradierte Erzählung von einem der bekanntesten Fieslinge der deutschen Theatergeschichte aufzubrechen.

Eva Löbau fragt also als Franz die Welt, konkret die Zu­schaue­r:in­nen des Maxim Gorki Theaters, warum die Natur ihn so ungerecht behandelt hat, und sinniert dann über die Liebe beziehungsweise Nichtliebe des Vaters.

Schillers Worte, heraus aus dem Dramenkorsett gerissen, stehen dabei nackt auf der Bühne und schaffen so einen Freiraum, in dem sich das Publikum die Figur mit ihrer persönlichen Geschichte der familiären Zurücksetzung in aller Ruhe ansehen kann. Leonie Böhm schaut auch bei Karl Moor, der sich in den letzten 200 Jahren als zuverlässiger Sympathieträger im deutschsprachigen Stadttheater etabliert hat, noch mal genau hin. Und so hat Julia Riedlers Karl etwas konstant Schlaffes, Selbstmitleidiges in seinem Auftreten. Sein unablässiges Buhlen um Bewunderung und Liebe hat komische Züge. Im Gegensatz zu der energetisch aufgeladenen Bühnenpräsenz von Eva Löbaus Franz.

Bei den „Räuberinnen“, die von den Münchener Kammerspielen ans Maxim Gorki Theater in Berlin gewandert sind, wird niemand zur Räuberhauptfrau gewählt. Um Führungsqualitäten geht es hier nicht. Die Räuberbande ist auf Karl, Spiegelberg und Roller zusammengeschrumpft, aber dafür sind auch Franz und Amalia mit dabei. Karl, Franz und Amalia sind die „menage à trois“, die ihren Seelenhaushalt voreinander auskippen und sich dabei des Schiller’schen Vokabulars bedienen.

Die Regisseurin spielte mit

Gro Swantje Kohlhofs Spiegelberg ist eine veritable Stimmungskanone, die sich im Publikum aufbaut und schreit: „Wer schreibt die besten gefälschten Briefe der Welt? Franz ­Moooooor!“ Und so endlich ein richtiges Lächeln auf Löbaus Franz-Gesicht zaubert. Friederike Ernsts Roller wiederum hat einen zuverlässigen Temperaturmesser für den Gefühlshaushalt der Troika gefunden: das Keyboard.

Amalia wird eigentlich von Sophie Krauss gespielt. Die aber war bei der Berlin-Premiere der „Räuberinnen“ erkrankt. Es ist die Regisseurin selbst, die kurzfristig einspringt. Und zwar ohne Textbuch. Sie beherrscht den Text und wirft sich mit Verve in die Rolle der Amalia. Die ist von Karls „Leiden auf hohem Niveau“ ziemlich unbeeindruckt und outet sich in der Art und Weise, wie sie Franz zurückweist, als Mensch/Figur, die sich in ihrer Beurteilung nur von Äußerlichkeiten leiten lässt.

Die Erinnerung an diese unverhofften anarchischen Minuten aber nimmt frau/man/mensch mit in den Alltag

Inzwischen hat es auf der Bühne geregnet. Muss sein, denn das Bühnenbild besteht aus einer riesengroßen Wolke (Bühne: Zahava Rodrigo). Amalia, Franz, Karl, Roller und Spiegelberg gründen jetzt eine hierar­chiefreie Räuberbande auf der pitschnassen Bühne. Und schon geht der Spaß los, denn eine Bühne kann auch eine Wasserrutsche sein!

Rutschen splitternackt

Fröhlich eingeläutet wird die Sause durch ein verspieltes Zehn-Ton-Busenkonzert oben ohne. Ganz einfach: jedes Antippen produziert einen Ton. Schnell entledigt frau sich der restlichen Kleider und rutscht splitternackt. Nicht selten reicht der Schwung bis zur ersten Reihe. Gelebte Kurz-Utopie im Theater, bar aller Konventionen und Hierarchien, bis der Applaus losbricht und die alte Ordnung wieder herstellt. Die Erinnerung an diese unverhofften anarchischen Minuten aber nimmt frau/man/mensch mit in den Alltag. Ins Räuber-Theatergeschichts-Gedächtnis ist die Szene definitiv schon aufgenommen.

Leonie Böhm und ihre Spielerinnen näherten sich dem fast 250 Jahre alten Text neugierig mit einer entspannten Welle Feminismus. Sie versuchten sich so nicht an einer Überschreibung des Stückes, sondern sie extrahieren. Mit Mehrwert, besonders für die, die Schillers Erstling gut kennen. Mit diesem Kompass im Gepäck kann mensch gespannt auf die nächste „Räuber“-Inszenierung warten. Die „Räuberinnen“-Seh­erfahrung könnte sich dann in den Sehvorgang hineinschleichen. Und Eva Löbau könnte als Franz vor dem inneren Auge wiederauferstehen, um den nächsten Franz-Schauspieler beziehungsweise die nächste Franz-Schauspielerin genau dort zu korrigieren.

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